Morgens, wenn die Sonne die Dächer der Altstadt mit Honig bestreicht und die Lachlach noch ein wenig kichert, bevor sie richtig wach ist, passiert in Humoriana etwas Merkwürdiges: Die Flüsterbrücke erzählt die erste Geschichte des Tages. Nicht laut – eher wie ein Seufzer aus Stein.

„Heute“, murmelte sie, „braucht die Stadt ein Buch, das nie voll wird.“

Helga hörte es zuerst. Helga, die den Garten hat, in dem sogar die Gießkanne gute Laune bekommt. Sie pflückte drei Minzblätter, steckte sie in ihre Schürze und machte sich auf den Weg zum Marktplatz. „Ein Buch, das nie voll wird“, wiederholte sie unterwegs und nickte den Laternen zu, die noch gähnten.

Vor Bernds Atelier blieb sie stehen. Bernd stand in der Tür, mit einem Pinsel hinter dem Ohr und Farbe auf den Fingern, die aussah wie Konfetti nach einem sehr kleinen, sehr persönlichen Fest.

„Hast du das auch gehört?“, fragte Helga.

„Wenn du die Brücke meinst: ja“, sagte Bernd. „Sie hat gestern schon über Überschriften nachgedacht. Ich glaube, sie will redaktionell arbeiten.“

Sie lachten, und das Lachen rollte die Gasse hinunter, bis es bei Jasmin ankam, die ihren Bus startete. Der Motor brummte zustimmend. Jasmin hob die Hand zum Gruß, ließ zwei Kinder mit Klettschuhen vor und murmelte: „Heute sammeln wir Geschichten. Wer eine hat, steigt ein.“

Auf der Bank am Ufer saß Marco, der mit einem Laptop sprach, als wäre es eine störrische, aber im Grunde liebenswerte Katze. „Du kannst doch eigentlich alles“, sagte er sanft, „also bitte – heute keine Updates um acht Uhr.“ Das Gerät piepte einsichtig. Marco klappte es zu, sah Helga und Bernd winken und kam dazu.

„Also“, begann Helga, „die Brücke wünscht sich ein Buch. Aber Papier wird nass, wenn der Lachlach lacht. Wir brauchen etwas, das überall hinpasst und niemanden ausschließt.“

Marco grinste. „Ein Stadtblog.“

„Ein was?“, fragte Bernd.

„Ein öffentliches Tagebuch. Für alle. Mit drei Säulen, damit es stehen bleibt, auch wenn der Wind von den Hügeln bläst.“ Marco zählte an seinen Fingern ab. „Aus dem Alltag: Was wirklich passiert. Fantastisches: Was Humoriana nachts träumt. Für Kinder: Was wir in einfacher Sprache erzählen, damit die Kleinsten zuerst lachen.“

Helga nickte. „Drei Minzblätter, drei Säulen, drei Wege zum gleichen Ziel: ein freundliches Herz.“

Sie setzten sich an den Rand der Uferpromenade. Der Fluss schimmerte. Auf der anderen Seite, wo die Bäume dicht standen, kratzte etwas in der Rinde. Ein kleiner Drache – nicht größer als Helgas Gießkanne – übte seinen Namen. „Fr… Fr… Fridolin“, hauchte er und pustete vor Anstrengung eine Wolke, die nach Zimt roch.

„Den nehme ich in die Fantasie-Spalte“, sagte Bernd. „Eine Skizze pro Woche: Fridolin lernt Wörter.

Auf dem Marktplatz stellte Jasmin den Bus ab und brachte drei Fundstücke: eine vergessene Einkaufsliste („Eier, Geduld, frisches Lachen“), ein Kinderhandschuh in Sternform und ein Foto, auf dem die Sonnenbrücke so aussah, als hätte sie gerade einen Witz verstanden.

„Das ist Alltag“, sagte Helga. „Das ist genau das Leben, aus dem wir hier unsere Geschichten kochen.“

„Und was ist mit der Kinderseite?“ Marco sah zu den Klettschuh-Kindern, die inzwischen am Brunnen Fische zählten, die gar nicht da waren. „Wir machen Regeln“, sagte er. „Kurz, freundlich, keine spitzen Wörter. Jede Geschichte endet mit einer Frage statt mit einem Punkt.“

„Wie diese hier?“ Helga kniete sich zu den Kindern. „Wenn ein Fisch unsichtbar ist, muss er dann trotzdem schwimmen?“ Die Kinder nickten ernst und lachten – beides gleichzeitig.

Am Rand des Platzes trat Frau Müller, die Bürgermeisterin, aus dem Rathaus. Sie trug ihren Guten-Morgen-Mantel, der Geräusche sammelte: Schritte auf Pflaster, das Klirren von Tassen, das Summen des Bäckers. „Was plant ihr hier?“, fragte sie.

„Ein Blog“, sagten sie im Chor.

„Mit drei Säulen“, fügte Marco hinzu.

„Mit Herz“, ergänzte Helga.

„Mit Bildern, die man auch ohne Brille versteht“, versprach Bernd.

Die Bürgermeisterin sah zur Flüsterbrücke, die in der Ferne glänzte, als hätte sie gerade die Haare gemacht. „Humoriana ist groß im Erzählen“, sagte sie. „Aber manchmal verschluckt die Stadt die kleinen Geschichten, weil die großen so laut sind. Also gut: Der Blog wird unser neues Stadttor. Wer durchgeht, bringt eine Geschichte mit oder nimmt eine mit.“

Sie holte einen Stempel aus der Tasche – das Wappen mit dem lächelnden Stadttor – und drückte ihn auf ein leeres Blatt. „Das ist die Eröffnungsseite. Jetzt brauchen wir die erste Geschichte.“

„Ich hab sie“, sagte Jasmin. „Heute früh, Fahrt 7:12, Linie Marktplatz – Hügelblick. Ein Mann stieg ein, hielt sich fest, als würde der Bus gleich abheben, und sagte: Ich will nur eine Haltestelle weit, aber bitte ganz langsam. Wir fuhren langsam. An der nächsten Station stieg er aus und sagte: Danke, jetzt weiß ich wieder, wie man atmet.

Helga lächelte. „Das ist Alltag.“

„Und ich habe auch eine“, sagte Bernd. „Gestern Nacht, am Atelierfenster: Die Schatten der Pinsel haben getanzt. Nicht wegen Zugluft. Sie haben geprobt. Heute werden sie, wenn ich male, von selbst an die richtige Stelle gehen. Ich muss nur freundlich fragen.“

„Das ist Fantasie“, sagte Marco.

„Und für die Kinder“, sagte Helga, „schreibe ich: Warum die Lachlach lacht. Es hat mit den Kieselsteinen zu tun, die Geschichten speichern. Wer einen ins Wasser wirft, weckt eine alte. Am Ende fragt die Geschichte: Welche Geschichte hat dein Stein gespeichert?

Die Bürgermeisterin nickte. „Gut. Ich kümmere mich um Impressum und Datenschutz. Ihr um den Rest. Heute um 18 Uhr, wenn die Laternen gleichzeitig aufwachen, geht die Startseite online.“

Am Abend stand die Stadt still, nur ein kleines bisschen, wie vor einem Foto. Über der Flüsterbrücke hing ein Banner, das gar kein Banner war, sondern der Atem des Flusses, der im Laternenlicht sichtbar wurde. Marco stellte den letzten Schalter um. Bernd lud ein Bild hoch: Fridolin, wie er „Fr“ schreibt und die Tinte mit einer winzigen Pranke festhält. Jasmin sendete ihren Bus-Moment. Helga tippte die erste Kinderfrage.

Die Seite war schlicht. Oben das lächelnde Stadttor, darunter drei Wege:

  • Aus dem Alltag – „Heute atmete einer wieder.“
  • Fantasiewelt – „Fridolin lernt Wörter.“
  • Für Kinder – „Warum die Lachlach lacht?“

Man konnte alles lesen, ohne zu scrollen, wenn man den Bildschirm leicht neigte und einen Schluck Minztee nahm. Die Flüsterbrücke summte zufrieden.

„Fehlt noch was?“, fragte Bernd.

„Nur der letzte Satz“, sagte Helga. „Jede gute Geschichte braucht einen letzten Satz, der die Tür einen Spalt offen lässt.“

Sie schauten zum Fluss. Ein Kiesel ploppte ins Wasser, obwohl niemand geworfen hatte.

Helga lächelte. „Schreib: Wenn du das liest, ist Humoriana schon unterwegs – wohin möchtest du, dass wir morgen abbiegen?

Marco tippte. Die Seite speicherte. Die Lachlach kicherte. Und irgendwo über dem Hügelblick, wo die Sterne manchmal zu tief hängen, übte ein kleiner Drache seinen Namen. Diesmal sprach er ihn ganz aus.

Fridolin.

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Von humoriana