In der kleinen großen Stadt Humoriana, wo selbst die Laternen am Abend so tun, als würden sie einander Komplimente zuflüstern, spielte sich an einem Dienstag etwas ganz Alltägliches ab: Bürgerbüro. Abholen, anmelden, ummelden – das Übliche. Nur dass „das Übliche“ an diesem Tag beschloss, Urlaub zu nehmen.
Marco stand da, in der Hand eine Wartenummer: 97. Die Anzeige im Raum sprang stoisch von 14 auf 15, machte dann einen vertikalen Ausflug zu 92, dachte kurz nach und stellte sich wieder auf 15. Die Luft schmeckte nach Kugelschreiber und leicht panischem Hüsteln. Neben Marco surrte der Ticketdrucker – nein, er surrte nicht, er starrte. Das Papier hing aus dem Schlitz wie eine Zunge nach einem Sprint.
„Aha“, murmelte Marco, „ein klassischer case: Montagsgefühl, am Dienstag.“
Er klappte seinen kleinen Laptop auf und flüsterte:
// Wenn gar nichts mehr läuft: freundlich bleiben, dann Kaffee.
Helga kam herein, drei Minzblätter in der Schürze, wie immer. „Wer ist Letzter?“, fragte sie, setzte sich daneben und sah die Schlange an wie eine Pflanze, die man mit Geduld gießt. „Nummer 97“, sagte Marco. „Offiziell.“ – „Inoffiziell sind wir hier alle 97“, lächelte Helga.
An Schalter 2 kämpfte Frau Winkler mit dem Drucker, der akustisch das Paarungsverhalten eines Walrosses imitierte. „Er frisst die Bescheide“, seufzte sie. Bernd – auf der Durchreise zum Baumarkt – steckte den Kopf zur Tür herein, sah die ratlosen Gesichter und pfiff leise. „Mir scheint, der Raum braucht eine neue Farbe: Hoffnung, matt.“
Dann passierte das, was in Humoriana immer passiert, wenn sich die Realität zu wichtig nimmt: die Flüsterbrücke mischte sich ein. Nicht körperlich – aber ein Windhauch aus Richtung Lachlach trug ein Satzfetzen durchs gekippte Fenster:
„Zieht zusammen, nicht Nummern, sondern Laune.“
Als hätte jemand auf „Koop-Modus“ gedrückt, begannen die Menschen, einander zu helfen. Jasmin kam mit dem Rad vorbei – Dienstschluss, aber nicht dienstfrei. „Ich wollte eigentlich nur am Fluss entlang“, sagte sie, „aber die Lachlach hat mich hergeschickt.“ Sie hob zwei Kinder auf den Stuhl, deren Schuhe Klett wollten und deren Geduld noch in der Grundausstattung steckte. „Wir üben mal Warten in Level 1.“
Marco stöpselte sich ans interne WLAN an (Passwort: Lachen_verbindet – er kannte das natürlich) und schrieb der Anzeigetafel einen netten Tonfall bei: Aus „BITTE WARTEN“ wurde „Es dauert gerade – wir sind bei Ihnen, versprochen.“ Helga verteilte Minzblätter wie kleine grüne Rettungsringe. Bernd schnappte sich Kreide aus dem Info-Kindereck und zeichnete auf den Boden eine blaue Wellenlinie – eine Mini-Lachlach, die von der Tür zu den Schaltern floss. „Wer auf der Welle steht, atmet ein, wer daneben steht, atmet aus“, erklärte er. Der Raum atmete.
„Ich hole den Mobilen Bürgerdienst“, sagte eine Stimme von hinten. Es war Otto, der Mann, der Bürokratie entheddert wie andere Kopfhörer. Fünfzehn Minuten später rollte ein kleines Lastenrad mit einem zusammenklappbaren Tresen rein. Dank Humoriana hatte sogar die Bürokratie mittlerweile Räder.
Und dann – als Zugabe für alle, die noch an Wunder gegen 11 Uhr vormittags glauben – kletterte aus dem Prospektständer ein kleiner Drache. Fridolin, kaum größer als Helgas Gießkanne, trug eine Mini-Schärpe, auf der „Dienstsiegel“ stand. Er nieste eine Zimtwolke auf den störrischen Drucker. Der rülpste, schämte sich ein bisschen – und spuckte fortan Bescheide in serieller Monogamie aus.
„96!“, rief Frau Winkler. Die Anzeige stellte sich ohne Zuckungen auf 96. „97!“, rief sie im nächsten Atemzug. Marco stand auf, stolperte kurz über die gemalte Welle, fing sich – und ging grinsend zum Schalter.
„Warum läuft es plötzlich?“, fragte er.
Frau Winkler sah auf Fridolin, der tat, als würde er eine Dienstmarke polieren, und dann auf den Raum, der ruhig geworden war. „Weil niemand mehr allein wartet“, sagte sie.
In fünfzehn Minuten passierte, was sonst eine Stunde braucht. Der Mobile Bürgerdienst übernahm einfache Anliegen, die Schalter konzentrierten sich auf die komplizierten Fälle, Bernds Wellenlinie sorgte dafür, dass niemand dem anderen auf die Zehen trat, und Helgas Minze machte die Luft so freundschaftlich, dass selbst die Meckerer vergaßen, warum sie meckern wollten.
„Unterschrift hier“, sagte Frau Winkler. Marco kritzelte seinen Namen – und legte aus Reflex ein Smiley daneben.
„Darf ich das lassen?“ – „Heute ist Tag der Offenen Ohren im Kleinen“, antwortete sie. „Das Smiley bleibt.“
Draußen glitzerte die Lachlach, als hätte jemand Konfetti ins Wasser geschüttelt und es sich anders überlegt. Die Flüsterbrücke tat, als ginge sie das alles nichts an, aber auf der Innenseite ihres Bogens prangte plötzlich ein Kreidesatz (Bernd, obviously):
„Wichtiger als die Nummer ist, wer neben dir wartet.“
Marco steckte den neuen Ausweis ein. „Bürgerbüro 2.0“, sagte er.
„Bürgerbüro menschlich“, korrigierte Helga.
Jasmin klingelte mit der Fahrradglocke, als Applaus in Metall.
Fridolin pustete eine winzige Rauchkringel-Null – so groß wie eine Wartenummer – und grinste.
Und die Anzeige? Sie ging weiter: 98, 99, 100. Ohne Hüpfer. Ohne Drama. Nur mit einem kleinen, kaum hörbaren Kichern – als hätte sie verstanden, dass man in Humoriana Zahlen zwar braucht, aber Menschen löst.
Moral der Geschichte?
In Humoriana gilt: Wenn die Nummer klemmt, klemmen wir uns zusammen – und plötzlich passt alles durch.
