Am späten Vormittag hörte die Lachlach auf zu kichern. Nicht aus Sorge, sondern wie jemand, der vor einer Pointe kurz Luft holt. In derselben Sekunde blieb die große Uhr am Rathaus stehen: 11:11. Die Zeiger hielten inne, als hätten sie etwas Wichtiges vergessen.

Helga merkte es zuerst. Sie stand im Garten und füllte die Gießkanne; das Wasser formte einen Bogen, der für einen winzigen Augenblick nicht zurück in die Kanne fiel. „Aha“, sagte Helga, „eine Minute weigert sich zu gehen.“ Sie steckte drei Minzblätter ein – gegen Nervosität, für Freundlichkeit – und machte sich auf den Weg zum Marktplatz.

Jasmin saß an der roten Ampel. Der Bus motorisierte leise vor sich hin, die Anzeige blieb bei „Nächster Halt: Sonnenbrücke“. Im Rückspiegel sah sie zwei Kinder, die durch die Luft eine unsichtbare Seifenblase schoben; die Blase platzte nicht – sie wartete. „Alles gut“, sagte Jasmin in den Bus, „wir schenken der Stadt gleich eine Minute.“

Marco starrte auf sein Laptop. Die Systemuhr stand ebenfalls auf 11:11 und blinkte beleidigt. Er tippte einen Befehl, der sonst jedes störrische Bit zur Vernunft brachte. Nichts. „Keine Panik,“ sagte er zu seinem Gerät, „es ist nur ein Feature.“

Bernd hielt den Pinsel über der Leinwand. Die Farbe tropfte nicht. Der Tropfen hing da wie ein halb ausgesprochener Witz. „Gut“, murmelte Bernd, „dann male ich eine Minute, die stehen bleibt.“ Er setzte sanft an und zeichnete einen schmalen Schatten unter die Zeiger der Rathausuhr. Der Schatten lächelte.

Auf dem Marktplatz trafen sich alle, die es eilig hatten, und alle, die sonst nie Zeit fanden, anzuhalten. Die Fliesen glitzerten, als hätten sie gerade den Himmel geputzt. Helga, Jasmin, Marco und Bernd standen vor dem Brunnen. Über ihnen klickte die Uhr – aber sie bewegte sich nicht.

„Mir ist, als wäre die Stadt heute schwindlig vom Rennen“, sagte Helga. „Vielleicht braucht sie eine Verschnaufpause.“

„Oder“, meinte Marco, „die Minute will gesehen werden. Jede andere Minute rennt durch, diese hier sagt: Ich habe auch Geschichten.

„Welche denn?“, fragte Jasmin.

„Sechzig Sekunden sind genug für vieles“, sagte Bernd und hielt den Pinsel hoch. „Für einen Atemzug. Für ein Lächeln. Für einen Pinselstrich, der ein Gesicht freundlicher macht.“

Da kroch aus dem Gullydeckel ein kleiner Drache hervor – Fridolin, kaum größer als Helgas Gießkanne. Seine Schuppen glitzerten wie Münzen im Wasser. „Die Minute hat Angst“, flüsterte er. „Sie glaubt, sie sei zu klein für die großen Dinge. Wenn ihr ihr etwas Kleines schenkt, geht sie weiter.“

„Etwas Kleines?“ Helga dachte nach und schob Fridolin ein Minzblatt zu. Der Drache nieste eine funkelnde Wolke. Die Wolke setzte sich auf die Uhr und machte es sich bequem.

Jasmin hob ihr Funkgerät. „Linie Marktplatz – Hügelblick, wir haben eine Sondermeldung: Bitte nutzen Sie die nächste Minute, um einmal bewusst einzuatmen. Abfahrt danach, versprochen.“ Im Bus ging ein freundliches Murmeln los, als hätte jemand eine Decke über unruhige Gedanken gelegt.

Marco klappte den Laptop zu. „Ich schenke der Minute einen Bugfix: In den nächsten sechzig Sekunden bleibt jedes nervige Pop-up weg.“ Er klopfte aufs Gehäuse, das ausnahmsweise nicht piepte, sondern dankbar summte.

Bernd malte in genau sechzig Sekunden drei Pinselstriche auf die Leinwand: einen für die Lachlach, einen für die Flüsterbrücke, einen für den Schatten der Zeiger. „Mehr braucht es nicht“, sagte er. „Der Rest passiert im Kopf.“

Helga stellte die Gießkanne an den Brunnen und ließ genau eine Minute lang das Wasser plätschern. „Damit du nicht alleine bist“, sagte sie zur Minute. Fridolin legte den Kopf schief und lauschte.

Als die sechzig Sekunden beinahe herum waren, hob die Flüsterbrücke einmal tief die Brust, wie ein Akkordeon vor dem ersten Ton. Irgendwo im Viertel Hügelblick kicherte ein Fensterladen, und ganz hinten beim Technikum hörte man das leise klick eines Servers, der sich verbeugte. Die Rathausuhr atmete ein, dann aus – und die Zeiger sprangen weiter auf 11:12.

Die Lachlach kicherte. Der Bus fuhr los. Der Tropfen fiel und wurde zu einem freundlichen Fleck, der aussah wie eine Insel. Marco öffnete das Laptop wieder; die Uhr ging, als wäre nichts gewesen. Helga verteilte die restlichen Minzblätter an alle, die stehen geblieben waren.

„Was war das?“ fragte eine Stimme. Die Bürgermeisterin trat aus dem Rathaus, den Guten-Morgen-Mantel über dem Arm. „Ein Stromausfall der besonderen Art?“

„Nur eine Minute, die nicht gehen wollte“, sagte Jasmin.

„Wir haben ihr gezeigt, dass sie wichtig ist“, ergänzte Marco.

„Und dass in sechzig Sekunden Platz für Freundlichkeit ist“, sagte Helga.

„Und für drei Pinselstriche“, sagte Bernd.

Die Bürgermeisterin sah zur Uhr. „Dann machen wir daraus etwas Festes. Jeden Dienstag um 11:11 sammelt Humoriana eine Minute lang Kleines, das Großes bewirkt. Wir nennen es…“

Minute der Stadt“, schlug Helga vor.

60-Sekunden-Geschichten“, sagte Marco.

Anhalten erlaubt“, meinte Jasmin.

Fridolin hüpfte. „Pling!“, piepste er. Alle lachten.

„Gut“, entschied die Bürgermeisterin. „Im Blog eröffnen wir eine Rubrik: 60 Sekunden Humoriana. Jede Woche ein Eintrag. Wer mitmacht, schickt eine Mini-Geschichte: maximal drei Sätze, ein Bild, ein Geräusch oder ein Pinselstrich.“

Noch am selben Abend erschien der erste Beitrag:

  • Alltag: „Ein Mann stieg nur eine Haltestelle ein – und stieg mit einem Atemzug mehr wieder aus.“
  • Fantasie: „Fridolin bewachte eine Minute, damit sie nicht weglief, und gab ihr ein Minzblatt gegen Lampenfieber.“
  • Kinderfrage: „Wenn eine Minute stehen bleibt, wird sie dann länger – oder wir langsamer?“

Darunter stand: Versuch’s morgen: Schenk deiner Stadt eine Minute. Was passt hinein?

Die Lachlach kicherte wieder in normaler Lautstärke. Die Flüsterbrücke tat, als hätte sie nie gesprochen. Aber wer genau hinsah, erkannte es: Auf dem Stein der Brüstung lag ein kleiner, glänzender Fleck, der wie ein Punkt aussah – der Punkt einer Pause. Wer ihn berührte, hörte für genau sechzig Sekunden die Stadt atmen.

Und die Uhr? Sie lief weiter, zuverlässig, wie immer. Aber manchmal, ganz selten, zwinkerte sie um 11:11. Nur ein bisschen. Als Erinnerung daran, dass eine Minute genug ist, um Humoriana ein Stück heller zu machen.


Mitmachen: Schreib deine 60-Sekunden-Geschichte (max. 3 Sätze) und häng sie an einen Kiesel am Ufer der Lachlach – oder schick sie digital an den Blog. Was passt in deine Minute?

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Von humoriana